Gerhard Tersteegen (1697-1769)
Gerhard Tersteegen  (1697-1769)

Vom christlichen Gebrauch der Lieder und des Singens

Text aus dem Buch " Weg der Wahrheit"  v. Gerhard Tersteegen

 

Vom christlichen Gebrauch der Lieder und des Singens (leicht gekürzt)

 

Es bleibt allerdings eine ewige und wichtige Wahrheit, die nicht nur der Heiligen Schrift, sondern auch der Vernunft gemäß ist, dass, gleichwie der Herr, unser Gott, ein ewiges, unsichtbares, geistliches Wesen ist, er auch demzufolge eigentlich nicht von Menschenhänden (Apg. 17, 25) noch Lippen durch äußere Verrichtungen, sondern allein im Geist und in der Wahrheit angebetet (Joh. 4,23,24) und ihm gedient werden kann und will. Unser gleichfalls ewiger und unsichtbarer Geist  ist allein fähig und geschickt (nachdem ihm Gott seine lebendige Erkenntnis mitgeteilt hat), ihn rechtschaffen zu verehren. Das geschieht durch einen heiligen, ehrerbietigen Wandel in seiner Gegenwart und in seiner reinen Liebe, und durch die beständige Aufopferung unseres Herzens, unseres Willens und alles dessen, was wir sind und vermögen, an Gott und dessen Wohlgefallen. Dieser reine Dienst des Geistes und der Wahrheit soll besonders in seiner Kraft und Lauterkeit in der Zeit des Neuen Bundes getrieben und aufgerichtet werden, da die Gnade und Wahrheit (Joh.1,17) durch Jesum Christum so überströmend geworden ist. Und es ist fürwahr der Art und Beschaffenheit dieses Neuen Bundes nicht gebührend, wenn der Gottesdienst mit so viel äußeren Dingen und Umständen bekleidet und umhüllt wird.

Diesem allem ungeachtet werden doch keineswegs einige gute Verrichtungen und gottselige Pflichten des sogenannten äußeren Gottesdienstes, als das Lesen, mündliche Beten, Singen oder andere leibliche Übungen verworfen und aufgehoben. Denn einmal  sind unsere Leiber nicht weniger als unsere Geister Gottes (1.Kor.6,20); und es ist deshalb geziemend, dass ihm auch durch beide gedient und er durch beide gepriesen werde. Nur müssen alle äußerlichen gottesdienstlichen Übungen mit dem wahren inneren Dienst des Geistes gepaart  gehen, wenn sie anders in Wahrheit „Gottesdienst“ genannt werden sollen.

 

Daneben können auch solche Andachtsübungen in ihrem rechten  Gebrauch als heilsame, von Gott und dessen Vorsehung angeordnete Handleitungen und  H i l f s m i t t e l  angesehen werden, um im wahren innerlichen Dienst des Geistes gefördert, erweckt und gestärkt zu werden. Es ist der Mensch in seinem gegenwärtigen Zustand leider sehr oft ins Äußere mit Sinn und Liebe gekehrt, und demnach Gott und den inwendigen Wirkungen seines Geistes so fern und fremd geworden, dass er zum geistlichen Umgang mit Gott ganz ungeschickt ist und die geheimen Regungen und Züge seines Geistes nicht wahrnimmt noch unterscheidet. Oder, wenn auch schon bei andern willigen Seelen die inneren Gnadenwirkungen Gottes etwas deutlicher bemerkt werden,, so verursacht dennoch die Unordnung der Gemütsbewegungen und des Fleisches wie auch die äußeren Bilder und die Beschäftigung mit ihnen dem Gemüte so manche Verdunkelung, Trägheiten, Zerstreuungen und Beunruhigungen, dass besonders im Anfang eine Gott suchende Seele noch oft aus der inneren Andacht und Stille herausgelockt wird. Deshalb hat der liebreiche Gott auch hierin die nötige Vorsehung getroffen und solche äußerliche Hilfsmittel an die Hand gegeben, wodurch der Mensch durch Gottes Segen und Mitwirkung seines Geistes aus seiner Zerstreuung ins Äußere immer wieder zurückgerufen, erinnert und auf sein Inwendiges gewiesen, und so zur Liebe und Gemeinschaft mit Gott und zu dessen Dienst im Geist und in der Wahrheit immer mehr geschickt gemacht werde. Diesen  Z w e c k  G o t t e s   müssen wir nun beim Gebrauch solcher Hilfmittel beständig im Auge halten, oder sie werden uns anstatt der Hilfe und des Nutzens nur Schaden und Hindernis im Dienste Gottes verursachen.

Unter den äußeren Hilfsmitteln ist gewiss  d a s  L e s e n  und S i n g e n   andächtiger Lieder nicht das geringste, weshalb wir bei dieser Gelegenheit dessen Nutzen  und Gott Wohlgefälligen Gebrauch ein wenig näher betrachten wollen, vielleicht, dass es noch jemand zum Unterricht dienen könnte. 

 

Zuerst ist aus der wirklichen Erfahrung gewiss, dass das andächtige Lesen gottseliger Lieder seinen besonderen Segen und Nutzen bei mancher Seele jederzeit gehabt hat. Es sind darin, mehr als in andern Büchern, allerlei besondere Seelenbeschaffenheiten lebendig abgebildet. Und so findet ein Gott suchendes Gemüt, in welchem Anliegen oder Stande es auch stehen mag, leicht etwas in ihnen, das mit seinem Zustande harmoniert und ihm zur Bekehrung, Stärkung, Erweckung und zum Trost dienen kann. Der anmutige Vortrag im Lied hat eine lieblich-reizende Kraft in sich, wodurch die christlichen Wahrheiten dem Gemüte ganz angenehm vorgeführt und mit Lust eingeflößt werden, wozu noch kommt, dass eine in Reimen gebundene Rede viel leichter als sonst etwas im Gedächtnis haftet und daher desto bequemer in allen vorkommenden Gelegenheiten zur Erinnerung und Aufrichtung durch göttliche Mitwirkung einer Seele dienen kann.

 

Das gläubige und andächtige Singen hat auch in Wahrheit etwas Engelhaftes an sich und schafft vielen Nutzen, wenn es vom göttlichen Segen begleitet wird.

 Es besänftigt und stillt die unruhigen Gemütsbewegungen;

 es vertreibt manches Mal die Trägheit, Traurigkeit und Bekümmernis des Herzens;

             es ermuntert, stärkt und erquickt den Geist, zieht den Sinn nach innen,

es sammelt und erhebt das Gemüt zur Heiterkeit und Andacht und

es macht uns damit  geschickter zum wahren Dienste Gottes im Geist.

Hierbei erinnere ich mich, was der heilige Augustinus erzählt von solchen guten Wirkungen des Gesangs in seiner Seele, bei seiner anfänglichen Bekehrung. „O wie sehr weinte ich“, spricht er zu Gott, „unter Deinen Lobgesängen und Liedern, als ich durch die Stimmen der lieblich singenden Gemeinde heftig erschüttert und bewegt wurde! Diese Stimmen ergossen sich in meine Ohren, und es taute Deine Wahrheit in mein Herz. Da entbrannte in mir das Gefühl der Andacht, und Tränen flossen hervor, dass es mir mit ihnen recht wohl dabei war.“

 

Dass aber solche und ähnliche gesegnete Früchte heutigen Tages bei dem größten Haufen nicht verspürt werden, ist nicht zu verwundern, da die wenigsten Sänger sie suchen und verlangen. Man ist sowohl beim Singen als bei allem andern äußerlichen sogenannten Gottesdienst durchweg mit einem nach der Gewohnheit getanem Werk zufrieden und meint oft: wunder wie fromm und gottesdienstlich man sei, wenn man ein oder mehrere Lieder mit einer guten Stimme und nach der Kunst dahergeplärrt hat. Ach, es wird die Langmut und Geduld des lieben Gottes wohl nirgends mehr auf die Probe gestellt und verspottet, als beim Beten und Singen der heutigen Namenschristen. Der Mund spricht von Buße und begehrt nicht Buße, ja, weiß oft nicht, was Buße sei. Man ruft getrost: „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir,“ und hat doch wohl nicht das geringste Gefühl von seiner Sündennot, sondern lebt lustig und fröhlich in den Tag hinein. Man schreit mit vollem Halse: „ Weg mit allen Schätzen! Weg ihr eitlen Ehren!“ und dergleichen. Und doch sind dies eben die Dinge, die man sucht, liebt und verlangt (mehr als Gottes Gnade zur Verleugnung der Welt und ihrer Eitelkeiten), eben die Götzen, die man ehrt und denen man dient und die man nicht verlassen will, noch leiden kann, dass sie uns genommen werden. Man sagt hundertmal zu Gott: „Mein Gott, das Herz ich bringe dir“,  und ist doch nimmer gesinnt, es IHM recht zu geben, sondern räumt es ohne Bedenken den sichtbaren Eitelkeiten dieser Welt und den Sünden ein; und so bleibt es nach wie vor in der Gewalt des Satans. Ich fürchte, ich fürchte, dass auf ein solches Lügengeschrei ein Heulen und Zähneklappern folgen werde, wenn die Stunde der Geduld des heiligen Gottes vorüber sein wird.

 

Indes werden die, denen es um ihrer Seelen Heiligung und Seligkeit Ernst ist, bei dem allgemeinen Missbrauch dieses sonst so heilsamen Hilfsmittels desto mehr sich angelegen sein lassen, sich dessen auf eine nützliche Weise zu bedienen, damit sie den Zweck und die Frucht erreichen, wozu die göttliche Weisheit es an Hand gegeben hat. Von einem solchen guten und Gott wohlgefälligen Gebrauch eines  Gesangbuches wollen wir nun noch einige Erinnerungen geben.

 

Zunächst ist es (besonders ungeübten Seelen) anzuraten, dass sie nächst der Bibel auch den Inhalt des Gesangbuches durch oftmaliges andächtiges Lesen und Betrachten sich bekannt machen, damit sie in allen vorkommenden Gelegenheiten, Erweckung und Stärkung bei der Hand haben möchten, wozu dann das Register über die Gegenstände zuweilen mit dienlich sein kann.

Wir sollen die Bücher nicht zum Staat, sondern zum guten Gebrauch haben; nicht wie die weltgesinnten Heuchler, die mit ihren kostbaren, vergoldeten Andachtsbüchern nur etwas des Sonntags Parade machen, die übrige Zeit aber sie wenig oder gar nicht in die Hände nehmen.

So hindert es auch nicht, wenn manchmal die Melodien dieses oder jenes Liedes unbekannt sind, oder man zum Singen gar keine Gelegenheit hat. Man braucht die Lieder nicht allemal mündlich zu singen, sie können auch im Geist  gesungen (1.Kor. 14,15) oder mit Andacht vor Gottes Angesicht gesprochen und geseufzt werden.

Das Singen selbst muss mit Ehrerbietung,

Andacht, Einfalt und herzlicher Begierde,

 geschehen.

 

Die Ehrerbietung vor Gottes Angesicht ist eine notwendige Seelenbeschaffenheit beim Singen. Wenn du singst, o Seele, so redest du mit dem heiligen, allgegenwärtigen Gott ebenso wohl, als wenn du betest. Denke: du stehst mit den viel tausend mal tausend Engeln und seligen Geistern im Geiste vor dem Throne Gottes und willst deine schwache Stimme mit der Engel Musik vereinigen.  Diene dem Herrn denn mit Furcht und freue dich mit Zittern (Ps.2,11). Gott lässt sich nicht spotten. Ach, wie so wenig Ehrerbietung spürt man beim Singen der meisten. Man sieht herum, man hat dies und jenes zu schaffen; und bei all der Leichtfertigkeit meint man Gott dennoch zu dienen, wenn nur der Mund die Worte laut nachschreit.

Man muss mit Andacht singen; Herz und Gedanken müssen gesammelt sein. Denke nach, was dein Mund spricht: singe und preise dem Herrn zugleich in deinem Herzen (Eph. 5,19). Laß dir dein Beten und das Leben deines Gottes rechter Ernst sein. Es ist ein heiliges und wichtiges Werk; tue es nicht schläfrig, sondern munter und von Herzen.  Der Herr ist nahe denen, die ihn mit Ernst anrufen (Ps. 145,18). Ach wenn man den meisten Sängern ins Herz sehen könnte, wie Gott es kann, wie würde man ihre Gedanken und Andacht so weit verreist sehen bei ihren Geschäften oder bei dem, was ein jeder sonst liebt und verlangt! Mit den Lippen nahen sie sich zu Gott, aber ihr Herz ist ferne von ihm (Matth. 15,7-8).

Man muss auch in Einfalt singen, schlecht und recht. Du musst mehr Acht geben auf Gott und dessen Gegenwart, vor dem der Herzensgrund bloß und offen liegt, als auf die Stellung des Leibes und die Gebärden oder auf deine Stimme und Zierlichkeit der Melodie, was die innere Andacht nur verhindert und in die unlautere Selbstgefälligkeit herauslockt. Das verstellte, gemachte Wesen der Menschen, mit dem seltsamen, gekünstelten Verdrehen und Verändern ihrer Stimme beim Singen, das oft nicht ein Wort davon verstanden werden kann, und andere heuchlerische Gebärden sind dafür ein deutliches Beispiel.

Die Begierde des Herzens ist das Wesentlichste, sowohl beim Singen als beim Gebet. Singen oder beten, ohne das zu begehren, was der Mund spricht, ist leeres Lippengeplärr und Spotten mit Gott. Glaube, dass dem Herrn mit unserem gekünstelten Geschrei nicht gedient ist. Der Hunger und die Begierde deiner Seele müssen zugleich nach Gott in Christo brünstig ausgehen, damit die Wahrheit, die du äußerlich sprichst auch Wahrheit und Wesen in dir werde, sonst bist du bei allem Schreien dennoch stumm vor Gott. Der gütige, himmlische Vater hat uns in den Gebeten und Liedern der Heiligen zu erkennen geben wollen, welche Gnaden unsern armen Seelen nötig seien, und welche heilsamen Güter er willen uns zu geben sei. Er will uns gleichsam die Worte in den Mund legen, wie wir ihn damit ansprechen sollen, um dadurch unsere matten, schwachen Begierden zu stärken und aufzuwecken. So groß ist die Herablassung und Leutseligkeit unseres Gottes!

 

Eine solche innere Gemütsbeschaffenheit muss gewiss bei der Gott wohlgefälligen Singandacht gefunden werden, wenn wir den eigentlichen Endzweck Gottes und rechtschaffene Hilfe und Nutzen dabei erreichen wollen, was auch leicht auf jeden vorkommenden Gegenstand angewendet werden könnte.

 

 

 

 

Wir wollen hierzu  noch eine kurze Anleitung geben:

Liest oder singt, o Mensch, dein Mund  e i n   B u ß l i e d, so denke dass dich eben dadurch dein erbarmender Erlöser zur Buße locken will, und lass sodann zugleich dein hartes Herz von seinem Geist (der sich in deinem Inwendigen schon anmelden wird) erweichen zu rechtschaffener Reue über deine begangenen Sünden und zu wahrhaftem Glaubenshunger nach seiner Gnade und seinem Geist, zu deiner wirklichen Bekehrung.

Liest oder singst du ein Lied von der Bekehrung der Welt, so schaue zugleich aufrichtig in dein Inwendiges hinein und prüfe,, dich, ob du auch noch die Welt lieb habest (1.Joh. 2,15-16) und was in der Welt ist: Augenlust, Fleischeslust und hoffärtiges Leben? Besieh dich wohl in der Gegenwart dessen, der Herzen und Nieren prüft, ob du auch, wenn dein Mund von Verleugnung singt, ob du verlangst, deine Liebe und Lust von allen eitlen, sichtbaren Schattendingen dieser Erde auf ewig abzuwenden und hingegen deine ganze Freude und dein Vergnügen allein in deinen Seelenfreund Jesum zu stellen. Um dich und mich hierzu zu erwecken und in einem solchen Sinn zu stärken, eben darum hat der gütige Gott uns solche Liebe aufschreiben und in die Hände kommen lassen.

Hast du etwa ein Lied vor dir, das von der Geburt, vom Leiden, von der Auferstehung unseres Heilands Jesu oder von einigen anderen Geheimnissen seines großen Erlösungswerks handelt, so glaube sicher, o Seele, dass dir Gott dadurch seine unermessliche Liebe anpreisen und dich zur Gegenliebe und wirklichen Annahme dieses Heilands nötigen will. Siehe dann wohl z u, ob du auch in lebendiger Erfahrung dein tiefes Elend und gründliches Unvermögen, dir zu raten und zu helfen erkennst, wie auch die unumgängliche Notwendigkeit eines solchen Erlösers, wenn du je aus deinem Sündenjammer und tiefen Verderben herausgerissen und mit Gott, deinem Ursprung, in Zeit und Ewigkeit wieder vereinigt werden sollst. Denke daran: Ach, was würde es mir nützen, dass ich von einem solchen liebenswürdigen, mächtigen, teuren Seligmacher höre, lese und singe, wenn dieser Jesus nicht auch  m e i n   J e s u s  wird, der auch mich selig macht von allen meinen Sünden. Was würde es mich trösten können, dass Gott also die Welt geliebt hat, dass er seinen eingeborenen Sohn gab? Soll es mir zugute kommen, so muss ich ihn auch in wahrem Glauben annehmen und mich ihm zu eigen ergeben, wenn ich anders unter die gehören will, die nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben (Joh. 3,16).

Handelt etwas das vorkommende Lied vom  L o b e  G o t t e s, so denke, dass dich Gott eben dadurch an deine große und höchste Pflicht erinnern und dich aufmuntern will zu dem Geschäfte, wozu er dich geschaffen und erlöst hat, nämlich zu Seinem Lob und zu Seiner

Verherrlichung. Seufze dann auch zugleich, dass er dir durch seinen Geist einen lebendigen Eindruck seiner Herrlichkeit, seiner Liebe, Treue und Wohltaten geben möchte, damit du ihn nicht nur mit dem Munde, sondern von ganzem Herzen und in lebendigem Glauben anbeten, verherrlichen und preisen möchtest. Und fasse dabei einen aufrichtigen Vorsatz, durch seinen Beistand in kindlicher Furcht und Gottseligkeit vor seinem Angesicht zu wandeln in allen deinen Wegen, damit nicht dein Leben Gott verunehre, während dein Mund ihn lobt usw.  Und gewiss wäre es nicht ohne Erbauung, wenn immer vor dem Singen solche Ermahnungen nach der Art des gewählten Gesangs den Sängern ans Herz gelegt würden.

So könnte nun einesteils dem heuchlerischen Missbrauch möglichst vorgebeugt werden, da oft die schönsten Dinge ohne Andacht, ohne Begierde, wenn nicht gar ohne Verstand, daher geschrien werden. Ja, wenn man die Gesänge in diesem Sinne ansehen und gebrauchen würde, so fiele auch andernteils bei aufrichtigen Seelen das unnötige Bedenken von selbst weg, da man denkt, wenn man nicht alles und jedes bei sich finde, wie es etwas im Liede ausgedrückt steht, so dürfe man es gar nicht singen, weshalb man dann entweder im Singen dies und das übergeht oder nach seinem Sinn verändert, wodurch in Versammlungen zuweilen nicht geringe Verwirrung und Störung in der Erbauung entsteht. Denn um davon zu schweigen, dass dies Übergeben oder Verändern einiger Ausdrücke auch wohl aus Heuchelei und ohne Erkenntnis seines Grundes nachgeäfft werden kann,, so ist es meines Erachtens auch ganz unnötig.

 

 

 Wir lesen in der Heiligen Schrift manche erhabene Gebete und Reden der Heiligen, die wir nicht ganz uns würden zueignen können; aber wir beschauen darin ihren Stand, wir verherrlichen Gott dafür und lassen uns zugleich reizen, ihnen nachzulaufen und nachzuhungern, dass der Sinn auch in uns sein möchte, der in ihnen gewesen ist. Und so können fromme Herzen auch all die Ausdrücke gottseliger Seelen in ihren Liedern ohne Anstoß nachsingen, und sich selbst lehren und vermahnen mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen, lieblichen Liedern (Kol.3,16), wobei dann ohnedem jeder dem Herrn in seinem Herzen singen kann, was er besonders nötig finden mag.

Nach dem Gesang ist man oft von allen äußeren und hinderlichen Gedanken abgezogen und in Andacht auf Gott gerichtet; das Gemüt ist mehr gestillt, besänftigt, aufgeräumt und erhaben und demnach in einer guten Bereitschaft zum Gebet. Deshalb ist es notwendig, dass man sich solcher guten Seelenzurüstung wohl bediene und sie möglichst bewahre und pflege, entweder durch andächtiges mündliches Gebet oder durch innerliches Zukehren seines Herzens zu Gott und zu einer heiligen Stille und Sammlung vor seinem Angesicht, nicht aber seine Sinne und Gedanken nach dem Gesang oder Gebet gleich wieder auf andere Dinge sich zerstreuen lasse, wodurch der etwas angeblasene Funke guter Begierde sofort erlöscht und mithin alle Frucht wieder verloren wird.

 

Denn so müssen wir den im Anfang dieser Abhandlung genannten Zweck all solcher äußeren Hilfsmittel bei ihrem Gebrauch hauptsächlich im Auge behalten, dass wir dadurch nur immer mehr aufs neue aufgeweckt, aus unserer Zerstreuung in die Kreatur eingesammelt und so geschickter gemacht werden, die inneren Wirkungen Gottes in unserem Herzen wahrzunehmen und ihnen Raum zu geben, damit wir dadurch gründlich geheiligt und zum Dienst Gottes im Geist und in Wahrheit zubereitet werden möchten. Die Betrachtung dieses Hauptzwecks muss auch Maß und Regel geben, wie viel und wie weit wir uns solcher Hilfsmittel bedienen dürfen. Wo man dies nicht in acht nähme, so würde uns eben das zuweilen zum Aufenthalt und Schaden gereichen, was uns sonst nützlich sein könnte.

 

Wenn es z. B. geschähe, dass eine Seele vor oder unter dem äußerlichen Beten, Singen oder andern gottseligen Übungen von Gott und dessen Gegenwart oder von einigen seiner Vollkommenheiten, Werken oder Wahrheiten auf eine lebendige und kräftige Weise gerührt, einwärts gezogen und im Geist damit beschäftigt gehalten würde, so ist es ihr alsdann nicht  nur erlaubt, sondern sie ist auch verpflichtet, Mund und alles Sinne still zu halten und alles Äußere, soweit es das Innere hindern könnte, dranzugeben, um dem inneren Zug und den Wirkungen des Geistes Gottes Raum zu lassen und Gott selber ihre Andacht leihen, der im Grund der Seele, auch in der größten Stille, aufs herrlichste und beste gelobt und ihm gedient wird. So lobt man Gott in  der Stille zu Zion (Ps. 65,2), so kann man dem Herrn singen und spielen in seinem Herzen (Eph. 5,19). Ein Viertelstündchen in einer solchen Andacht und Stille vor Gottes Gegenwart sich eingekehrt halten, ist Gott wohlgefälliger und uns heilsamer, als tausend andere gutgemeinte Werke und Übung, die wir je vornehmen können. Und das ist der eigentliche Endzweck alles äußern sogenannten Gottesdienstes.

Ja, das ist auch der einzige Endzweck unserer Erschaffung und Wiedererlösung durch Christum:  so mit Gott im Geiste in kindlicher Vertraulichkeit umzugehen und sein seligmachendes Licht, seine Liebe, seinen Frieden und seine Gemeinschaft in unserem Inwendigen zu erfahren und uns mit ihm und seinen Vollkommenheiten zu beschäftigen.  Dahin  will uns sicher der Heilige Geist durch seine Überzeugungen und verborgenen Züge bringen, wenn wir nur aufmerksam sind, ihm stille zu halten, und uns seiner treuen Leitung im einfältigen Gehorsam überlassen. So wird dann endlich (wie ein Kirchenlehrer sagt) eines Christen ganzes Leben ein immerwährender Festtag durch Gebet und Lobgesänge, Psalmen und Lieder, indem die lebendige Erkenntnis und Erfahrung der Gegenwart und Innewohnung Gottes den Geist alsdann in beständig kindlicher Ehrfurcht, Anbetung und Verherrlichung dieser hohen Majestät bewahrt.

 

Ach wie so selig sind die, die so in dem Hause Gottes wohnen, die loben IHN immerdar (Ps. 84,5).

Diesen unaussprechlich herrlichen Segen und diese Gnade wünsche ich allen Lesern und Sängern beim Gebrauch aller erbaulichen Gesangbüchern von Herzen.

 

Ach, Du liebens- und lobenswürdigstes Wesen! Wie wenig wirst Du erkannt, wie wenig wirst Du geliebt und gelobt in diesen finsteren Zeiten! Du bist uns so nahe (Apg. 17,27), wir leben und schweben immer vor Dir und in Dir; Du denkst an uns, Du stehst an unseres Herzens Tür (Offbg.3,20) und willst Dich unseren Seelen mitteilen. Ach, was machen doch Deine Geschöpfe! Wir vergessen Deiner, wir lassen Dich gar, o Du allein vergnügende Quelle des Lebens (Ps. 36,10) und beschäftigen uns mit den geringen, nichtigen Dingen dieser Erde, die nichts Wesentliches haben noch geben können und wie ein eitler Schatten vergehen. Dennoch achten wir solche Dinge, als wenn sie groß und wichtig wären. Du aber bist uns, als wenn Du fast nichts wärst, wenigstens als wenn Du nicht der wärst, der DU bist, nämlich das unendlich herrliche und vollkommene Wesen, das höchst liebenwürdige und allein seligmachende Gut. Dich lobt man mit den Lippen und ehrt Dich mit dem Munde; den Kreaturen aber räumt man sein Herz ein! Ach wie kläglich und entsetzlich ist die große Blindheit und Verderbnis der Menschen! Haben wir denn kein Mitleid mit uns selber, ach, so habe Du Mitleid mit uns. Gib einen hellen Strahl Deines Lichts in unsere verfinsterten Herzen, und offenbare Dich unsern Seelen in Deiner Herrlichkeit und Liebenswürdigkeit, damit wir uns und alle Eitelkeiten dieser Welt verleugnen und vergessen können, dagegen uns allein mit Dir beschäftigen und mit unserem Geist und allen Seelenkräften Dich innigst anbeten, erheben, loben und lieben unser ganzes Leben lang, bis wir das große Glück haben werden, mit allen himmlischen Heerscharen und Erkauften von der Erde vor Deinem Thron nieder zu fallen und mit ihnen das neue Lied (Offbg.5,9;14,3) anzustimmen und Dich anzubeten, der Du lebst von Ewigkeit zu Ewigkeit! AMEN.

 

 

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